Viele Unternehmen schreiben sich eine agile Transformation auf die Fahne und sind dann (zu Recht) etwas überrumpelt, wenn die Beratungsfirmen, die sie zur Unterstützung anfragen, mit einer Armee agilen Coaches einrücken wollen und einen Bereich nach dem anderen gemäß Scrum umstrukturieren wollen. Zu Recht? Ja. Unreflektiert einem Trend zu folgen hat sich nie bewährt, das ist heute nicht anders. Also reflektieren wir mal.
Wenn wir von einer agilen Transformation sprechen, dann schwingen hier drei Aspekte mit:
Erstens: agiles Mindset, Prinzipien und Werte
Zweitens: Geschäftsagilität
Drittens: agile Arbeitsmethoden (Scrum, Kanban etc. sowie diverse Elemente der Methoden wie Retrospektiven, inkrementeller oder iterativer Ansatz, genauso wie der tägliche Stand-up).
Agiles Mindset, Prinzipien und Werte
Ein Blick auf agile Prinzipien und Werte, wie sie im Agilen Manifest dargestellt sind, ist sicherlich für jede Organisation lohnenswert. Es finden sich geschäftsrelevanten Elemente wie Kundenzentrierung, oder auch das Reagieren auf Veränderung höher zu werten als das Befolgen eines Plans. Außerdem finden sich Elemente, die sich unter NewWork zusammenfassen lassen. Ein Beispiel wäre Individuen und Interaktionen höher zu werten als Prozesse und Tools. Ein anderes Beispiel ist das Prinzip „Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen.“ Obwohl das agile Manifest sich auf die Entwicklung von Software bezieht, ist es im Wesentlichen auf jeden anderen Bereich übertragbar.
Wenn eine Organisation vor einer agilen Transformation steht, lohnt sich immer die Auseinandersetzung mit dem agilen Manifest und es wird vielleicht überraschen, wie viel vom Manifest bereits vom Unternehmen angestrebt wird.
Geschäftsagilität
Mit der IMD Business School und dem Global Center for Digital Business Transformation definieren wir Geschäftsagilität über die drei Verhaltensdimensionen des HAVE-Modells (wie ausgeführt im Buch „Agiles Führen“ von Puckett und Neubauer, 2018). Hyperbewusstsein, informierte Entscheidungsfindung und schnelles Handeln. Agile Organisationen sind ständig auf dem neusten Stand und verfolgen Trends auf dem Markt und in der Technologie, um künftige Kundenbedürfnisse, Risiken und Chancen auf dem Markt frühzeitig zu erkennen (Hyperbewusstsein). Sie nutzen Daten wo immer möglich. Sie erheben und analysieren Daten, auf die sie selbst zugreifen können, und bedienen sich anderer Datenbanken. Entscheidungen werden datengestützt getroffen. Informierte Entscheidungsfindung ist im digitalen Zeitalter, wo bspw. Konsumentendaten mehr über Kunden verraten als dass Kunden selbst über ihre Bedürfnisse wissen, ist ein Muss. Das alles nutzt einer Organisation allerdings nur, wenn sie in der Lage ist, schnell und ohne zeitliche Verzögerungen auf neue Chancen oder Risiken zu reagieren. Die Strategie anpassen, das Produkt verändern.
Die Geschäftsagilität zu erhöhen, daran kommt mittlerweile auch kein Unternehmen vorbei, zumindest solche nicht, deren Markt von Disruption geprägt ist. Manche Unternehmen haben vielleicht noch etwas Zeit, bevor Disruption sie zum Handeln zwingt. Zu den Gewinnern werden aber auch hier die Unternehmen gehören, die sich schon heute zukunftsfähig aufstellen. Eine erhöhte Geschäftsagilität gehört somit immer zu einer agilen Transformation dazu.
Agile Arbeitsmethoden
Hier sieht die Sache etwas anders aus. Eigentlich ganz anders. Agile Arbeitsmethoden bringen viele Vorteile, die einen breiten Nutzen stiften. Allen voran sicherlich die Retrospektive, die Teams regelmäßig über die eigene Arbeit und Leistung reflektieren lässt, mit dem Ziel, Prozesse, Arbeitsweisen und veränderbare Umstände kontinuierlich anzupassen, um sich zu verbessern oder um sich auf neue Gegebenheiten besser einstellen zu können. Heute haben viele Unternehmen bereits solche Retrospektiven, oder After Action Reviews implementiert, die nach größeren Projekten einberufen werden, manchmal auch nur nach Scheitern. Dies ist nicht genug. Im Militär beispielsweise folgt auf eine Flugstunde in der Pilotenausbildung mitunter drei oder vier Stunden Nachbesprechung. In Scrum wird nach jedem Sprint reflektiert.
Andere Methoden aus dem agilen Werkzeugkoffer, die relativ breit eingesetzt werden können, ist beispielsweise Kanban: Nichts anderes, als Arbeitsbelastungen sichtbar machen und Flaschenhälse vermeiden, indem der Work in Progress, also die Aufgaben, an denen gerade gearbeitet wird, auf ein Minimum zu reduzieren. Auch das Arbeiten nach dem Pull-Prinzip ist ein guter Impuls für viele Unternehmen.
Einzelne Elemente agilen Arbeitens einzuführen, ohne eine komplette Scrumstruktur zu schaffe, ist übrigens völlig legitim. Auch müssen nicht alle Bereiche oder Projekte gleichermaßen agilen Methoden folgen. Im Gegenteil. Agiles Projektmanagement ist nicht immer Methode der Wahl. Die folgende Tabelle, entnommen dem Buch „Agiles Führen – Führungskompetenzen für die agile Transformation“ (Puckett & Neubauer, 2018), gibt eine Orientierung vor, unter welchen Bedingungen, die Markt, Kunde und Aufgabe (Arbeit) vorgeben, ein Arbeiten nach der agilen Methode lohnenswert ist und unter welchen Bedingungen klassische Projektstrukturen die bessere Wahl sind. Auch hier braucht es aber kein Dogma, einzelne Elemente agilen Arbeitens, können trotzdem hilfreich eingesetzt werden.
| Agilität von Vorteil
| Agilität von Nachteil |
Der Markt | ||
Geschwindigkeit der Entwicklung | Die Bedingungen des Marktes verändern sich, neue Konkurrenz entsteht, Disruption passiert oder ist zu erwarten | Die Bedingungen des Marktes sind stabil und vorhersagbar. Disruptionen sind sehr unwahrscheinlich. |
Der Kunde |
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Kunden-bedürfnisse | Die Bedürfnisse der Kunden verändern sich und neue Bedarfe sind zu erwarten.
Die Anforderungen der Kunden sind oft nicht von vornerein vollständig bekannt/ vorhersehbar | Kundenbedürfnisse sind stabil und neue Bedürfnisse in Ihrem Feld unwahrscheinlich. Die Anforderungen der Kunden sind bekannt und stabil und können frühzeitig definiert werden. |
Kunden-beziehung | Die (engere) Zusammenarbeit mit dem Kunden bietet eine Win-Win-Situation, beide Seiten können profitieren. Die Kunden sind offen für eine engere Zusammenarbeit
Die Kunden haben die Möglichkeit, frühzeitig Feedback zu geben
| Beide Seiten profitieren nicht von einer (engeren) Zusammenarbeit
Die Kunden haben kein Interesse an einer engeren Zusammenarbeit
Den Kunden ist es nicht möglich, frühzeitig Feedback zu geben |
Die Arbeit |
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Die Aufgabe | Problemstellungen sind komplex
Die Bearbeitung einer Aufgabe erfordert Kenntnisse aus verschiedenen Funktionen/ Fachbereichen
| Aufgaben sind einfach, klar strukturiert und können unabhängig voneinander bearbeitet werden Aufgaben können in den jeweiligen Fachabteilungen/ Funktionen erledigt werden
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Standard/ Routine | Lösungen müssen erst gefunden werden Es gibt regelmäßig neue Aufgaben/ Problemstellungen
Die Methoden und Herangehensweisen sind noch nicht bekannt oder es gibt unterschiedliche Möglichkeiten Unterschiedliche Denkweisen und Stile sind möglich und es besteht ggf. Uneinigkeit zum Vorgehen
Es können neue Technologien angewendet werden | Lösungen sind bereits definiert Die Arbeit ist zum Großteil routiniert und meist eine Reproduktion bereits etablierter Lösungen
Alternative Denkweisen oder Stile können ausgeschlossen werden und es besteht Einigkeit darüber Technologien können nicht angewendet werden |
Flexibilität | Die Lösungen können noch während und nach der Umsetzungsphase modifiziert werden
Lösungen können in Teillösungen heruntergebrochen und getestet werden Feedback und Lernerfahrungen können im weiteren Vorgehen berücksichtigt und werden | Lösungen können während oder nach der Umsetzung nicht modifiziert werden (oder es wäre zu teuer). (Das Bauen einer Brücke z.B., wobei man so lange wie möglich computergestützt planen kann) Lösungen können nicht in Teillösungen heruntergebrochen und getestet werden Optimierungen auf Grund von Feedback und Lernerfahrungen sind schwer möglich |
Innovations-potenzial | Innovationen sind möglich, notwendig oder förderlich | Innovationen sind (nach bestem Wissen) nicht möglich und auch nicht notwendig |
Risiko | Die Folgen von Fehlern können überblickt und ausgeglichen werden | Die Folgen von Fehlern sind schwer vorhersehbar und können verheerend sein |
Tabelle entnommen: Puckett, S. & Neubauer R. M. (2018). Agiles Führen – Führungskompetenzen für die agile Transformation. Göttingen: BusinessVillage.
Ob wir von Mindset und Werten sprechen, über Geschäftsagilität diskutieren oder den agilen Arbeitsansatz mit seiner Fülle verschiedener Methoden betrachten: Das Ziel einer Transformation ist nicht „Agilität“. Das Ziel ist Zukunftssicherung. Es führen hier nicht nur viele Wege nach Rom. Sinnzweck, Vision und Strategie jedes Unternehmens sind einzigartig. Genauso einzigartig darf sich die agile Transformation gestalten.
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